Ein Weg zur Bildungsgerechtigkeit
Musik bildet. Sie überwindet kulturelle und soziale Hürden und öffnet allen Kindern gleiche Chancen. Linda Reisch zeigt, wie der Musikkindergarten Berlin dies in seiner täglichen Arbeit spielerisch umsetzt, und lässt Wissenschaftler unterschiedlicher Fachdisziplinen zu Wort kommen.
Ein Junge, der in Deutschland aufgewachsen ist und dessen Eltern aus Kolumbien stammen, kommt nach einigen Wochen in der elterlichen Heimat zu uns zurück und spricht kein Wort Deutsch mehr; er spricht konsequent Spanisch. Die Kinder seiner Gruppe jonglieren und spielen daraufhin ohne pädagogische Anleitung mit den gerade gehörten spanischen Vokabeln so kunstvoll, dass Tiago wieder schnell Teil der Gruppe wird und er am nächsten Tag so fließend Deutsch spricht wie vor seiner Reise. Die Kinder haben durch die Musik fein geschulte Ohren, der Zugang zu anderen Lauten und Sprachen fällt ihnen leicht und ist ihnen zudem noch ein Riesenspaß. Ein ausgebildetes und geschultes Wahrnehmungsvermögen befähigt nicht nur zum Lernen, es verführt dazu. Und die Musik ist der Weg dorthin.
Der Musikkindergarten Berlin, eine Initiative des Pianisten und früheren Generalmusikdirektors der Berliner Staatsoper Unter den Linden Daniel Barenboim, erprobt, gestaltet und geht seit 2005 Wege von der Musik in die unterschiedlichen Bildungsbereiche. Es geht in diesem Kindergarten nicht um Musikerziehung, nicht ums Erlernen eines Instruments, sondern um einen durch und durch musikalisch gestalteten Alltag und um das Erschließen der durch das Berliner Bildungsprogramm vorgegebenen Bildungsbereiche mit und durch Musik.
Jeden Tag können wir bei den Kindern beobachten und lernen, was Musik bewirken kann. Singen und Hören-Lernen helfen bei der Sprachentwicklung, und das völlig unabhängig vom kulturellen und sozialen Hintergrund des Kindes; Musik, Rhythmus und Bewegung unterstützen die Motorik; Erfahrungen mit Akustik und Schwingungen bauen Brücken zum Naturwissen; erstes eigenes Singen und Musizieren verbinden Zählen-Lernen, das Wahrnehmen von Strukturen und soziale Kompetenz; die durch die Musik offen gehaltenen oder geöffneten emotionalen Räume fördern Fantasie und Vorstellungskraft beim Malen, Gestalten und Geschichten-Erzählen. So stellt sich die Musik als ein Bildungsmedium dar, das Kindern spielerisch und freudvoll den Zugang zu nahezu allen Facetten von Bildung öffnet und erleichtert.
Nichts liegt also näher, als sich zu fragen, ob die unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen unsere Beobachtungen bestätigen und vielleicht neue Erkenntnisse ergänzen können. So haben wir, gemeinsam mit der Barenboim-Said- Akademie, eine öffentliche wissenschaftliche Vortragsreihe gestartet unter dem Titel »Was Musik kann.« Was wissen Neurobiologie, Entwicklungspsychologie, Evolutionsbiologie, Semantik, Philosophie, Medizin oder Physik über die Wirkungs- und Gestaltungsmacht der Musik?
Exkurs in die Wissenschaft
Vom Neurowissenschaftler Robert Zatorre von der McGill Universität in Montreal konnten wir lernen, dass es in unserem Gehirn eine angeborene innere Repräsentanz von Musik gibt. Im Hörzentrum sind Vorstellungen von Musik gespeichert, die wir alle in uns tragen. Bei einer Stimulierung dieser Gehirnregion hört unsere Wahrnehmung etwas, das klingt wie Musik. Und noch genauer betrachtet, sind es nicht Töne, die abgespeichert sind, sondern ist es jeweils das Verhältnis zwischen den Tönen. Das ist wohl der Grund, weswegen wir Erwartungen von Musik haben und z.B. Melodien, die wir noch nie gehört haben, antizipieren können. Komponisten gehen mit diesen Antizipationen um und erzeugen z.B. Spannungen, indem sie das Antizipierte hinauszögern. Dies erhöht den Genuss beim Hören. Die Reaktion des Gehirns auf erbauliche Musik sei übrigens ähnlich wie die auf Rauschmittel. Eine These ist folglich, dass die Menschen wahrscheinlich auch durch die Musik gelernt haben, ihre emotionale Kompetenz zu erhöhen und Zustände emotionaler Erregung zu steuern. Zatorre sagte auch Folgendes wörtlich: »Die Musik ist fester Bestandteil dessen, was uns erst zu Menschen macht, sie gehört zu unserer geistigen Grundausstattung.«1 Die Archäologie zeige, dass Menschen seit Beginn ihrer Existenz mit Musik gelebt haben. Warum? Wozu? Die Musik lasse uns das emotionale Geschehen in uns erfassen, mithilfe der Musik können wir Zeugnis ablegen von unserer sittlichen Verfassung.
Von Stefan Kölsch, Neurowissenschaftler an der Universität Bergen in Norwegen, erfuhren wir erneut, dass der Mensch mit musikalischen Kompeten- zen geboren wird. Mithilfe dieser Kompetenzen lernen wir Sprache: durch die Musik in der Sprache – Prosodie, Rhythmus. Koelsch geht davon aus, dass evolutionär die Musik vor der Sprache da war. Er berichtete auch, dass z.B. Kindern mit Sprachentwicklungsstörungen mit musikalischer Bildung, vor allem mit rhythmischen Elementen, weitgehend geholfen werden könne; hier gebe es extrem effiziente und adäquate Behandlungsmöglichkeiten. Aber auch jedem anderen Kind helfe Musizieren bei der Sprachentwicklung. Und: Es gebe ein menschliches Bedürfnis, uns miteinander zu synchronisieren. Dieses Synchronisieren habe soziale Auswirkungen, z.B. die Ausbildung von Empathie, erhöhte Kooperation, stärkeres Vertrauen, stärkere soziale Kohäsion. Erstaunlich ist, dass schon Kleinkinder sich synchron zur Musik bewegen. Kölsch sagt, kein Affe könne das. Das Sich-Beteiligen an Musik ist uns also eingewoben – und hat einen Sinn: das soziale Miteinander zu stärken. Dieser Zusammenhang spiele für die menschlichen Bindungen eine große Rolle. Kölsch: »Dieser Zusammenhang ist wichtig, wenn man diskutiert, warum der Mensch es ohne Musik nicht durch die Evolution geschafft hätte.«2
Martin Rohrmeier, Musikkognitionsforscher an der Universität Dresden, betonte ebenfalls, dass Musik ein fundamentales menschliches Bedürfnis sei und zum Menschsein dazugehöre. Er legte sehr präzise dar, wie Musik und Sprache miteinander verbunden sind. Rhythmus, Metrum, Melodie, Akzentuierung prägen beide Kommunikationswege, und sie arbeiten mit vergleichbaren kognitiven Mechanismen.
Der Kognitionsbiologe Tecumseh Fitch von der Universität Wien vertritt, angelehnt an Darwin, die These, dass »wir sehr früh in unserer Entwicklungsgeschichte, bevor wir die Sprache hatten, die Fähigkeit zur Musik erworben haben [...]. Sie hat in gewisser Weise den Weg für die Entwicklung der Sprache geebnet.«3 Fitch meint, »dass die Macht der Musik in eine Zeit zurückgeht, bevor wir wirklich menschlich waren«, also »eine Sprache sprechen konnten«, »dass wir musikalische Menschenaffen waren, bevor wir linguistische Menschenaffen«4 wurden. Zum Zusammenhang von musikalischen Prägungen und Sprachentwicklung erzählte der Musikpsychologe Henkjan Honing von der Universität Amsterdam am Beispiel von deutschen und französischen Babys: Sie schreien jeweils in der Sprachmelodie ihrer Muttersprache. Die deutschen Babys fangen laut an und »schreien allgemein in abfallender Tonhöhe«, die französischen »in aufsteigender Tonhöhe«, sind also am Schluss am lautesten. Die Babys sind folglich früh »empfänglich für Intonationsmuster, also Melodien«, »für Rhythmus [...], für Änderungen in der Dynamik«. Mit drei bis sechs Monaten nutzen sie diese Empfänglichkeit, um Wortgrenzen zu identifizieren »sie setzen also ihre musikalischen Fähigkeiten ein, um aus eigener Kraft die Sprache zu erlernen.«5
Von weiteren Forschungsergebnissen ließe sich hier berichten, aber kehren wir zurück zum Musikkindergarten Berlin. Der Zusammenhang zwischen Musik und sprachlicher Entwicklung gehört auch für uns zum Spannendsten in der täglichen Kindergartenrealität. Wie sieht diese aus?
Linda Reisch, gelernte Literaturwissenschaftlerin, ehemalige Kulturdezernentin der Stadt Frankfurt a.M., seit 25 Jahren Beraterin für Bildung und Kultur, realisierte 2005 die Idee und den Wunsch Daniel Barenboims, einen Musikkindergarten in Berlin zu gründen, und ist seitdem Geschäftsführerin dieser Bildungsinstitution.
Kontakt
1 Zatorre R (2015): Music and the Brain: Made for Each Other. Auf: www.musikkindergarten-berlin.de unter Was Musik kann Symposion 2015
2 Kölsch S (2015): Der Einfluss von Musik auf die Sprachentwicklung bei Kindern. Auf: www. musikkindergarten-berlin.de unter Was Musik kann. Symposion 2015 sowie Kölsch S (2022): Good Vibrations – Die heilende Kraft der Musik. Berlin, S. 23
3 Fitch T (2016): Music and Musicality from a Biological Perspective. Auf: www.musikkindergarten-berlin.de unter Was Musik kann. Werkstatt 2016
4 Ebd.
5 Honing H (2016): What makes us musical animals. Auf: musikkindergarten-berlin.de unter Was Musik kann. Werkstatt 2016
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/2023 lesen.