Musikalische Vielfalt in der Kita
Musik ist ein elementarer Teil jeder Familienkultur und auch in der Kita ein fester Bestandteil im Tagesablauf: gebunden an Rituale und Feste oder als für sich stehende Aktivität. Seit Jahrzehnten werden in vielen Kitas dieselben, meist deutschsprachigen Kinder- und Volkslieder gesungen, die oft traditionelle oder sogar diskriminierende, z.B. rassistische Botschaften enthalten. Passt diese Musik zur Vielfalt der Kinder und Familien und ihren musikalischen Lebenswelten? Ist es nicht an der Zeit, aufzuräumen und Instrumente, Liederbücher, Materialien, Texte und Klänge an die Vielfalt der Gesellschaft und der Kita-Kinder anzupassen? Die Erziehungswissenschaftlerin Caroline Ali-Tani schreibt über die Potenziale von Musik für Gemeinschaft und Gruppenzugehörigkeit.
Auf der Erde leben rund acht Milliarden Menschen, dazu gehören über zwei Milliarden Kinder. Was haben alle diese Kinder gemeinsam, was unterscheidet sie? Um eine Vorstellung hiervon zu bekommen, wird in dem Buch »100 Kinder« der Frage nachgegangen, was wäre, wenn die Welt ein Dorf aus 100 Kindern wäre. Von diesen 100 Kindern wären z.B. 33 Christ:innen und 25 Muslim:innen, 48 Kinder lebten in der Stadt, 5 auf der Straße und 15 direkt am Meer. 42 Kinder lebten in einer Demokratie, während 13 in einem Land leben wür- den, in dem Krieg herrscht, und 54 gingen in einen Kindergarten oder in die Schule. 85 Kinder hätten sauberes Wasser, aber 21 keinen Strom zu Hause. 33 Kinder hätten einen Hund, 50 könnten zu Hause ins Internet gehen, und 80 hätten dort einen Fernseher. Es gibt nur einen einzigen Aspekt und ein einziges Kapitel mit der Zahl 100: 100 Kinder von 100 Kindern machen Musik! Und diese Zahl bezieht sich nicht nur auf Kinder, die ein Instrument spielen oder zum Musikunterricht gehen – dann wäre die Zahl geringer. Überall auf der Welt wird Säuglingen vorgesungen, um sie zu beruhigen, überall auf der Welt gibt es Schlaflieder, überall auf der Welt tanzen, singen, musizieren Kinder. Sie werden von Geburt an musikalisch »alphabetisiert« und mit Klängen und Melodien vertraut gemacht. Und für die meisten Kinder und Jugendlichen ist Musikhören eine der liebsten Freizeitbeschäftigungen.
Auch in der Kita gibt es Lieder, die jeden Tag gesungen werden und mit bestimmten Aktivitäten verknüpft sind,
etwa dem Aufräumen. In den meisten Kitas gibt es Liederordner und CD- Player, die bald wieder Rolf Zuckowskis »In der Weihnachtsbäckerei« abspielen werden. Erstaunlich ist jedoch, dass – trotz der Vielfalt der Kinder und ihrer Familien, ihrer unterschiedlichen Zugänge zu Musik, trotz der unterschiedlichen Klänge und Melodien, die ihnen vertraut sind, und trotz der verschiedenen Anlässe, an denen Musik eine Rolle spielt – in Kitas und Schulen seit Jahrzehnten immer dieselben Lieder gesungen werden. Wird die Musik in der Kita der Vielfalt der Gesellschaft eigentlich noch gerecht? Spiegeln sich die unterschiedlichen Familienkulturen der Kinder auch in den Klängen, Melodien und Liedtexten wider? Welche Chancen bietet gemeinsames Singen? Was sollten wir diskriminierungskritisch hinterfragen und verändern?
Musik für alle im Morgenkreis
Egal, in welche Kita man geht: Im Morgenkreis spielt Musik immer eine Rolle. Es gibt feste Begrüßungslieder und Rollenspiele, bei denen die Kinder zu Pinguinen, Schlangen oder sonstigen Tieren werden und in der Mitte tanzen, und meistens werden auch Fingerspiele und Gesten integriert. Gerade das Ritualisierte und Wiederkehrende spielt hier eine große Rolle: Die wenigen Lieder, die immer wieder gesungen und gespielt werden, sind den Kindern im Laufe ihrer Kindergartenzeit immer vertrauter, und die meisten können sie bald mit- und nachsingen. Das gemeinsame Singen schafft Zugehörigkeit und ein Gruppengefühl. Aber gilt das für alle Kinder? Und können die Kinder auch eigene Musik, Klänge und Texte mit einbringen?
In einer Kita fällt mir ein Junge auf, Aaron, der morgens von einem Fahrdienst gebracht wird und erst mal eine Viertelstunde lang im Flur sitzt, da niemand sein Ankommen bemerkt. Durch Zufall sieht ihn eine Erzieherin und sagt erstaunt zu ihrer Kollegin: »Aaron ist doch da, er sitzt im Flur!« Aaron stellt sich daraufhin in die Tür zum Gruppenraum und setzt sich dann alleine an einen Tisch, wo er lange Zeit mit ein paar Muscheln spielt, die er mitgebracht hat. Während die meisten anderen Kinder z.B. aktiv zum Frühstücken aufgerufen werden, bekommt Aaron weiterhin keine Aufmerksamkeit. Einige Zeit später sollen die Kinder aufräumen und sich dann auf den Teppich zum Morgenkreis setzen. Während alle Kinder bereits auf dem Boden sitzen, ist Aaron noch mit Aufräumen beschäftigt und wird von Gaby, einer der Erzieherinnen, immer wieder ermahnt, sich zu beeilen. Schließlich sagt sie: »Aaron, wir fangen schon mal an!« Die Gruppe beginnt, ein Begrüßungslied zu singen. Aaron steht in der Mitte des Kreises und räumt noch seine Spielzeuge weg, wird aber nicht weiter beachtet. Die Kinder und Erzieherinnen singen das Lied »Wer ist hier?«, bei dem nacheinander jedes Kind namentlich begrüßt wird. Aaron, der immer noch in der Mitte steht, ruft schließlich mehrmals hintereinander: »Aa-Ron!!! Aa-Ron!!!«, vermutlich, weil er auch namentlich mit dem Lied begrüßt werden möchte. Gaby berücksichtigt das jedoch nicht, sondern ermahnt ihn, dass er ordentlich rufen und nicht schreien soll. Anschließend werden die Kinder gefragt, welches Lied sie noch singen möchten, und das erste Mal bekommt Aaron Gehör: Er wünscht sich ein »Muschellied«. Aaron möchte wohl über die Muscheln singen, mit denen er den ganzen Morgen über gespielt hat. Aber niemand kennt ein Muschellied, weshalb Aaron ein ausgedachtes Lied über seine Muscheln singt, alleine. Sibylle, die zweite Erzieherin, lächelt und klatscht im Takt dazu, während einige der Kinder anfangen zu lachen und von ihr ermahnt werden. Aaron setzt sich wieder hin, und danach dürfen noch weitere Kinder, die möchten, ein Lied vorsingen. Maximilian, der danach an der Reihe ist, singt das »ABC-Lied«. Als er fertig ist, sagt Gaby anerkennend zu ihrer Kollegin: »Der wird bestimmt mal Lehrer!«
Was passiert in dieser Situation, welche Rolle spielen die Musik und unterschiedliche Wertigkeiten? Zunächst zeigten die meisten Interaktionen mit Aaron, dass er in der Gruppe als »Störenfried« stigmatisiert und entweder nicht beachtet oder zurechtgewiesen wurde. Sein Wunsch dazuzugehören wurde in vielen Momenten deutlich, insbesondere als das Begrüßungslied gesungen wurde und er seinen Namen lauthals und mehrmals »herausschrie«, wie Gaby es kommentierte. Das Lied scheint für Aaron eine wichtige ritualisierte Vergewisserung zu sein, dass er Teil der Gruppe ist und zumindest für diesen Moment von allen Aufmerksamkeit bekommt: »Aaron ist da!« Eine Besonderheit in diesem Morgenkreis war es, dass den Kindern die Möglichkeit gegeben wurde, eigene Lieder vorzustellen und vorzutragen. Das Potenzial, hierdurch individuelle und familienkulturell geprägte Lieder oder Musik einzubringen und die Vielfalt von Musik erlebbar zu machen, wurde aber nicht umgesetzt, weil die Beiträge unterschiedlich bewertet und kommentiert wurden. Aaron und sein individueller Beitrag und damit auch seine Ich-Identität wurden nicht gestärkt, im Gegenteil: Durch die Kommentierung seitens der Erzieherin wurden hierarchische Rollen innerhalb der Kindergruppe verfestigt.
Caroline Ali-Tani, M.A., arbeitet als Erziehungswissenschaftlerin, Fortbildnerin, Dozentin und Prozessbegleiterin, insbesondere zu den Themen Inklusion, Vielfalt, Antidiskriminierung, Vorurteilsbewusstsein, Partizipation und Kinderrechte in Kindertagesstätten und der frühpädagogischen Praxis.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/2023 lesen.