Reggio-Pädagogik als Menschen- und Zukunftsbildung
Um eine positive Beziehung zu sich selbst aufzubauen, aus der heraus Kinder gesunde Beziehungen zu anderen entwickeln können, brauchen sie vor allem eins: Respekt. Ein Wert, der in der Reggio-Pädagogik groß geschrieben und in jeder Begegnung gelebt wird. Für die Atelierista und Leiterin des Reggio-Ateliers im österreichischen Linz Barbara Moser gehören Respekt, Glück und Lernen zusammen, denn für sie ist die Reggio-Pädagogik nicht nur eine Lerntheorie, sondern grundlegende Bildungsethik.
In der inzwischen legendären Projektdokumentation »Zärtlichkeit« liest man von den Gedanken der Kinder Daniele und Laura im Kindergarten La Viletta in Reggio Emilia über die Schönheit der Liebe. Sie resümieren, dass fast alle Menschen auf der Welt schön sind. »Jemand ist schön, weil er ein schönes Lächeln hat und einen schönen Blick mit schönen Augen und einer schönen Frisur …, auch wenn es böse Menschen gibt, die schön sind, böse Menschen, die hässlich sind, gute Menschen, die hässlich sind. Es gibt aber auch gute Menschen, die schön sind.«1 Die Ursache von so viel Schönheit vermutet Laura darin, dass sie glücklich sind: »Wenn ich mich ärgere, bin ich ein klein bisschen hässlich, aber wenn ich glücklich bin, werde ich schön. Wenn man glücklich ist, wird man schön.«2 Alle sind Freunde in ihrer Welt, meinen Daniele und Laura: »Es gibt die, die dir das Herz weit werden lassen (die Herzensfreunde), und die, die dir das Herz ein bisschen weniger weit werden lassen (…).«3
Empathie und Respekt
In Daniele und Laura und allen Kindern dieser Welt steckt so viel Empathie, dass sie Liebe vor Hass und Respekt vor Abwertung stellen. Ein friedvolles Leben zu führen, ist nicht nur eine Entscheidung, sondern zeugt von einem gewaltfreien Umgang mit dieser Verschiedenheit. Ein Leben mit differenzierten Wahrheiten stärkt uns in Toleranz für ein respektvolles Miteinander. Im Mittelpunkt steht die Ansicht, dass Menschen von Verschiedenheit geprägt sind. Hass, Gewalt und Krieg sind illusionäre Wahrheiten. Krieg aufgrund der Ablehnung von Unterschiedlichkeit hemmt die gesellschaftliche Transformation in eine bessere Zukunft. Frühkindliche Erfahrung von Empathie und Respekt hingegen ist der Motor für die Gestaltung zukunftsfähiger Gesellschaften. Ein geliebtes Kind ist ein empathisches Kind. Ein empathisches Kind ist ein soziales Kind. Wir wissen heute, dass Kinder viel empathischer und kooperativer handeln, als wir dies lange gedacht haben. Jeder Mensch will von Geburt an Teil einer Gesellschaft sein und am Geschehen der Welt partizipieren. Sein Gehirn ist ein Sozialorgan – Ablehnung und sozialen Ausschluss ordnet es so ein, als sei es körperlichem Schmerz ausgesetzt –, sein Körper ist auf Nähe ausgerichtet und der Augenkontakt seine Verbindung zum Gegenüber.
Da sein. Für das Kind ist es von ständigem Wert, zu wissen, dass der Erwachsene da ist, aufmerksam und hilfreich, ein Führer für das Kind. Die Klärung der Bedeutung unserer Anwesenheit und unseres Zusammenseins mit den Kindern ist für das Kind von entscheidender Bedeutung. Wenn das Kind sieht, dass der Erwachsene da ist und sich ganz auf das Kind einlässt, vergisst es das nicht.4
Loris Malaguzzi, 1993
Vielfalt: die reiche Normalität
Bereits Kinder im Krippenalter sind Urheber und Gestalter ihres eigenen Lebens, sie sind Träger von Rechten und Werten. Offenheit gegenüber Diversität und Verschiedenheit gehört für Kinder zur reichen Normalität dazu. The rich normality, wie sie in Reggio Emilia auf englisch immer genannt wurde, ist Anstifter zum Frieden. Täglich erleben wir den starken Sinn für Gerechtigkeit und Gleichheit, für Verantwortlichkeit und Solidarität wie eine Saat in den Gedanken und Konzepten der Jüngsten aufgehen. Vergleichbar der Natur, sind die Bewegungen ihrer Gedanken auf Wohlbefinden und Wachstum ausgelegt. Nichts kommt woher und geht wohin ohne einen Ausgangspunkt und ein Ziel. Welche Saat wir heute pflanzen, mit Respekt gegenüber den vielfältigen Sorten, deren Früchte wird unsere Gesellschaft ernten.
Um die Samen mit Empathie und Respekt in den Kindern aufgehen zu lassen, braucht es eine Pädagogik des aktiven Zuhörens. Die Fähigkeit des aktiven Zuhörens, des Dialogs und des »Multiple Listenings« sind unverzichtbare Bestandteile, um die vielfältigen Stimmen der Kinder ernst zu nehmen, in die Welt des anderen einzutauchen und eine Idee von dessen Konzepten und Weltbildern zu bekommen.
Hundert Sprachen
Die Atelierista und Reggio-Pädagogin Vea Vecchi spricht von den unterschiedlichen Qualitäten des Zuhörens und betont, dass die schwierigste Form des Zuhörens diejenige ist, »bei der dem Gegenüber Raum für seine Strategien und Standpunkte gegeben wird. Es findet kein wahres Zuhören und Respektieren statt, wenn wir nicht davon überzeugt sind, dass die andere Person imstande ist, uns wichtige Dinge zu erzählen, die uns bereichern können.«5 Die Atelierista und Leiterin des pädagogischen Zentrums in Reggio Emilia Carla Rinaldi wiederum versteht unter Zuhören die Offenheit für Unterschiede und den Wert verschiedener Standpunkte und Interpretationen von anderen: »Ich betrachte die hundert Sprachen als einen See mit sehr vielen Quellen, die in ihn fließen, mit dem Recht sich auszudrücken und miteinander zu kommunizieren (…).«6 Rinaldi beschreibt damit die Idee, dass Vielfalt für den Dialog hilfreich sei, um sich seiner hundert Sprachen und seiner eigenen Besonderheit bewusst zu werden. Jeder Ausdruck des Kindes in Form der hundert Sprachen, verbal oder non-verbal, verleihe dem Kind eine Stimme und hinterlasse uns eine Nachricht über dessen Empfindungen und Weltanschauungen.
DNA des Humanismus
In unserer Kultur führt Erziehung jedoch oft und früh zur Ausrottung der Spontaneität und zur Unterdrückung von Gefühlen. Rorschach-Tests mit drei- bis fünfjährigen Kindern haben ergeben, dass deren Versuch, Spontaneität zu wahren, zum Hauptkonflikt zwischen den Kindern und autoritären Erwachsenen führt.7 Wenn es jedoch gelingt, unsere Gesellschaft mit und durch die Augen des Kindes anzusehen und als Bildungsgemeinschaft zu gestalten, werden wir in der Lage sein, unsere Zukunft und die der Welt zu verändern. Menschen verfügen über ein »kooperatives Gen«, hörte ich den Psychosomatiker Joachim Bauer 2022 anlässlich eines Vortrags der in Graz ansässigen Akademie für Kind, Jugend und Familie sagen, und auch Carla Rinaldi zieht die Verbindung zu unserer Natur, wenn sie sagt, dass Kindheit die
DNA des Humanismus ist.8 Jedes Kind hat das Recht, beachtet zu werden, Wertschätzung und Akzeptanz zu erfahren und in keinerlei Weise Gewalt. Wie oft erleben Kinder Gewalt durch Erwachsene durch Demütigung und Diskriminierung? Abwertung erfahren Kinder nicht nur in ihrer eigenen Familie, sondern auch in der Bildungseinrichtung. Früher hatte unerwünschtes Verhalten eine – oft schmerzhafte – Strafe zur Folge. Die moderne Umschreibung ist »Konsequenzen« – häufig in Form von Abwertung und über Abwertung hinaus, als persönlichkeitseingreifende Handlung wie Isolation, welche Menschen maßgeblich schadet: Maxi wird auf den Auszeitstuhl gesetzt, weil er immer wieder Lukas ärgert und ihm die Bausteine wegnimmt. Die Reggio-Pädagogik fokussiert das Kind als individuelles und soziales Subjekt und fördert dessen emotionales Wachstum und soziale Integrität.
Barbara Moser ist Bildungswissenschaftlerin, Elementarpädagogin und Atelierleiterin. Die Aktivierung von Kreativ- und Innovativ-Potenzialen durch kreativ-künstlerische Atelierarbeit ist ihr zentrales Anliegen. Sie arbeitet und lebt in Linz und reiste als internationale Vertreterin des Reggio-Ansatzes von Kapstadt bis nach Luxemburg.
Kontakt
1 Vgl. Reggio Children (Hrsg) (1995): Zärtlichkeit. Eine Geschichte von Laura und Daniele. Neuwied, S. 10 (im Folgenden zitiert als »Zärtlichkeit«)
2 Zärtlichkeit, S. 56
3 Ebd.
4 »Being there. It’s a constant value for the child to know that the adult is there, attentive and helpful, a guide for the Child. Clarifying the meaning of our presence and our being with children is something that is vital for the child. When the child sees that the adult is there, totally involved with the child, the child doesn’t forget.« Loris Malaguzzi, 1993. Zitiert nach Vortragsmitschrift, International Reggio-Meeting, 2016
5 Vgl. Jobst S. (2007): Inklusive Reggio-Pädagogik. Bochum, S. 65
6 Ebd., S. 41
7 Fromm E. (2017): Freiheit und Demokratie. München, S. 175
8 Rinaldi zitiert nach Naama Zoran auf www.facebook.com/share/p/ SW5kcrcwXRdDP4Pj/ (16.03.24)
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03-04/2024 lesen.