Was alles zu Autonomie gehört und worüber nachgedacht werden sollte jenseits von lebenspraktischer Geschicklichkeit, die ja für die Erwachsenen so praktisch ist, weil das Kind sie davon entlastet, stellt uns Beatriz Trueba aus ihrer Praxis vor.
Zweifellos stimmen viele, vielleicht die meisten Kleinkindpädagogen darin überein, Autonomie als ein vorrangiges pädagogisches Prinzip anzusehen. Interessant ist jedoch, wie wir bereit sind zu glauben, dass Kinder umso autonomer sind, je mehr motorische und andere Fähigkeiten sie erwerben, z.B. allein essen, Schuhe zubinden, sich anziehen, zur Toilette gehen oder Hände waschen können. Hier möchte ich kurz stoppen und nachhaken. Ist das wirklich alles Autonomie? Wie kommt es dazu? Warum werden diese Fähigkeiten zu Zielen erhoben? Was ist ihr Zweck? Ganz offensichtlich gehören sie zum größer Werden, zum Wissen, was man braucht in der Welt, und was man können muss, um nicht abhängig zu sein.
Ich will nicht missverstanden werden, es ist wichtig solche Fertigkeiten zu lernen. Trotzdem schlage ich einen anderen Zugang vor, der diese »allgemeinen Wahrheiten« in Frage stellt.
Wenn größer werden kein Ziel ist
Manchmal werden Kinder derart gedrängt, werden sie so sehr zu Eile genötigt, dass das Lernen der genannten Fähigkeiten einem Hindernisrennen ähnelt und uns daran erinnert, wie den Kindern früher Wissen eingetrichtert wurde. Was kam dabei heraus? Vielleicht liegt in uns Erwachsenen allgegenwärtig und fast unbewusst, noch ein Drang verborgen, Kinder anzutreiben, damit sie alles so schnell wie möglich tun können, um dann »fortzuschreiten« zum nächsten, was Tradition oder Forschung als noch wichtiger ansehen.
Soll die Kindheit und alles, was ihr eigen ist, wirklich so schnell wie möglich vergessen werden und so früh wie möglich ersetzt? Das Kind: je ähnlicher einem Erwachsenen, je besser? Woher kommt die Besessenheit unserer Gesellschaft, ihr unaufhörliches Verlangen zu hastigem Aufwachsen?
Ein Bild der Kindheit
Im Kern lässt sich alles Handeln auf unsere Vorstellung von Kindheit zurückführen. Was also lässt uns Kinder in entwürdigenden Fernsehsendungen anschauen, in denen sie kochen, singen und tanzen, wo sie zum Vergnügen des Publikums die Erwachsenen nachäffen müssen? Ist es das, was allgemein unter einem autonomen Kind verstanden wird?
Andererseits sind wir von überbehüteten Teenagern umzingelt, die von Kindheit an von Frust, Versagen oder Verlust ferngehalten wurden. Ihnen wurde so gut wie alles auf dem Silbertablett präsentiert, noch bevor sie überhaupt ein Bedürfnis dazu entwickeln konnten. Ihnen wurde von klein auf verwehrt, etwas für sich selbst zu tun. Wünsche wurden im Voraus erfüllt. Eine übermäßig beschützende Umwelt misstraute den Fähigkeiten der Kinder. All dies hat gravierende Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung.
Beide Erscheinungen sind die Seiten derselben Medaille. Unsere Gesellschaft ist zerrissen zwischen falschen Kindheitsbildern. Schon Malaguzzi stellte fest, dass Kinder als unfertig, bedürftig und permanent von Erwachsenen abhängig gesehen wurden, gleichzeitig aber verfrüht als Erwachsene behandelt wurden.
Fachkräfte müssen sich ihres inneren Bildes von Kindheit und vom Kind bewusst werden, damit sie ihre Handlungen dahingehend überprüfen können, ob sie zu den Annahmen passen. Welche Ideen setzen wir tatsächlich um, wenn wir handeln? Wie ist das unter Zeitdruck und wie viel davon geschieht durchdacht?
Gemeinhin akzeptierte Klischees, all das Gewohnte, sind mit die schlimmsten Feinde von Forschung, Freiheit und Fortschritt. Es ist aber notwendig, das Übliche in Frage zu stellen. Mit den Worten eines spanischen Autors aus dem 17. Jahrhundert: »Diejenigen im Licht, denken über das nach, was sie sehen; die im Dunkeln sehen nur, was sie denken.«
Persönliche Ansichten und Handlungen
In manchen Wörterbüchern steht, Autonomie sei ein Zustand der Unabhängigkeit von anderen Personen, eine Situation, in der sich jemand rechtskräftig gemäß seiner eigenen Gesetze selbst bestimmen kann. Autonomie hat also viele Bedeutungen, die von Selbstbestimmung über körperliche Unabhängigkeit bis hin zur eigenen Meinung und inneren Verhaltenswerten reichen.
Constance Kamii, eine Piaget Schülerin, unterscheidet drei Facetten von Autonomie: die lebenspraktische, die intellektuelle und die moralische. Lebenspraktische Autonomie ist überaus wichtig, doch nicht ausreichend. Intellektuelle und moralische Autonomie sind ebenfalls wichtig.
Das bedeutet eine eigene Meinung haben und ausdrücken können, ebenso wie Prinzipien zu folgen, an die wir glauben, weil wir das wollen, nicht weil es von uns verlangt wird. Sie erklärt das an einem Beispiel:
Meine Nichte glaubte an den Weihnachtsmann. Mit ungefähr 6 Jahren überraschte sie ihre Mutter mit der Frage: »Wie kommt es, dass der Weihnachtsmann das gleiche Geschenkpapier nimmt wie wir?« Die Antwort der Mutter hielt nur ein paar Minuten stand, dann kam die nächste Frage: »Wie kommt es, dass der Weihnachtsmann die gleiche Handschrift hat wie Papa?« Ganz offensichtlich denkt dieses Kind eigensinnig; so kam es zu anderen Rückschlüssen als denen, die sie vorgesetzt bekam.
Das Beispiel reicht weiter. Die Nichte verfügt offensichtlich über Kritikfähigkeit und Eigeninitiative. Wie kommt es also, dass jungen Kindern noch immer die praktischen und gegenständlichen Facetten der Autonomie zugestanden werden, die intellektuellen und ethischen jedoch nicht, als ob diese ausschließlich den Erwachsenen vorbehalten seien? Für Loris Malaguzzi war dies ein Relikt aus der Zeit, als Kinder generell als nutz- und hilflos angesehen wurden. Seiner Definition von Autonomie lag die Überzeugung zugrunde, dass Kinder bereits sehr früh aktiv teilhaben und vor allem ihre Sichtweisen, Meinungen und Kritik ausdrücken können können.
Alltagssituationen sind dafür sehr gut geeignet: wenn Kindern beim Mittagessen die Wahl ermöglicht wird zwischen zwei gleichwertigen, aber unterschiedlichen Gerichten oder wenn ein Gericht auf unterschiedliche Art gegessen werden kann oder wenn Kinder Projekte nicht nur »durcharbeiten« müssen, sondern die Vorgehensweise bestimmen und welche Fragen und Interessen verfolgt werden sollen. Es gibt unglaublich viele Situationen, in denen die Entwicklung intellektueller und ethischer Autonomie gestärkt werden kann.
Die Umsetzung gelingt, wenn Erzieherinnen ihre Rolle anders als früher ausüben. Sie müssen sich als Teilnehmer an den Unterhaltungen der Kinder verstehen. Sie dürfen dabei den Meinungsaustausch der Kinder untereinander nicht stören, müssen die Kinder darin stärken, ihren eigenen Ideen zu vertrauen. Der Weg zur Autonomie führt über die Anerkennung des jeweils erreichten Grades der Autonomie von der frühen Kindheit das ganze Leben lang.
Literatur
Kamii, Constance: »Autonomy: The Aim of Education Envisioned by Piaget«, 1984, Phi delta Kappan, vol 6
Ritscher, Penny: Gelobt sei die Langsamkeit! Auch in Kindergärten! KINDER in Europa Heft 25/2013
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe KINDER in Europa 28/15 lesen.