In den Jahren 2012 bis 2016 entwickelten wir in Kindergärten der ländlichen Gemeinden Portel und Oriola im portugiesischen Binnenland eine innovative Arbeit mit Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren. Deren pädagogische Grundlage ermöglicht eine, das Lernen unterstützende Praxis, die wir bis dahin bei Vorschulkindern nicht für möglich oder angemessen hielten.
Ein Blick auf das Lernen in der frühkindlichen Bildung
Die Geschichte der frühkindlichen Bildung ist reich an VertreterInnen der sogenannten »aktiven Pädagogik«. Die Lehren von Freinet, Montessori, Steiner, Decroly und anderen stehen im deutlichen Gegensatz zur reduktiven, standardisierten, homogenisierenden und Kindern gegenüber wenig respektvollen und leider auch heute noch weit verbreiteten schulpädagogischen Praxis, bei der – in einer Art Pädagogik der »Übertragung« – Wissen durch einen sachkundigen Lehrer an alle Kinder weitergegeben wird, als ob diese ein einziges Kind wären. Die wohlbedacht eingeführte Trennung der frühkindlichen von der schulischen Bildung, bewirkte bei ersterer, wie auch beim Bild vom Kind an sich, eine, im marxistischen Sinne, ideologische Änderung, welche die Sicht auf den Prozess des Lernens und die Art, wie jemand lernt – zumindest aus der Perspektive des Diskurses –, stärker betont als das Lernen selbst.
Das Wissen darum, dass das Spiel die bevorzugte Art des Kindes zu lernen ist und die Wertschätzung lebensnahen und selbstbestimmten Lernens, stehen in scheinbarem Widerspruch mit den, durch das portugiesische Curriculum – entsprechend den Curricula anderer Länder – eingeführten »zu fördernden Lernerfahrungen«, einer Aufstellung von 65 Fähigkeiten, die ein Kind bei Vollendung der Vorschule erworben haben soll (Silva, 2016). Die Definition der »zu fördernden Lernerfahrungen« ist untrennbar mit dem Konzept der »gesellschaftlich relevanten Lernerfahrungen« – einer Reihe von Qualifikationen, die als wichtig oder wesentlich für alle Kinder angesehen werden – verknüpft. Deren Erwerb soll die Chancengleichheit und Gerechtigkeit und den Schulerfolg für Kinder benachteiligter sozioökonomischer Schichten sichern.
Das Konzept besagt, dass es nicht irrelevant ist, was ein Kind durch frühkindliche Bildung lernt. Dementsprechend legt es fest, welches Wissen in der frühen Kindheit erworben werden soll und dass sich die Lernangebote nach den zu erwerbenden
Qualifikationen auszurichten haben. Dies impliziert aus meiner Sicht, dass jene Lernerfahrungen – nicht ausschließlich, aber schon sehr ausgeprägt – von ErzieherInnen initiiert und begleitet werden müssen (Adult Guided Learning) (Charlesworth, 2015).
Ein scheinbares Paradox
Die Tatsache, dass Lernen ein lebenslanger Prozess ist und Kinder notwendigerweise bestimmte Qualifikationen erwerben
sollen, stellt ErzieherInnen in der Frühpädagogik vor dieselbe Herausforderung wie LehrerInnen anderer Bildungsstufen:
Wie gelingt es, dass Kinder lernen, was wichtig ist, dass sie lernen, wie man lernt und gleichzeitig das lernen, was von ihnen erwartet wird? Wenn Strategie und Lernen zusammenkommen, ist Lernen ein Vorgang, bei dem die Art, wie jemand lernt, davon abhängt, was jemand lernt. Die dafür geeigneten Angebote müssen gut strukturiert, vorab planbar und zielführend sein und selbstverständlich
den Wissensstand des Kindes berücksichtigen. Damit Kinder – anders als bei den sterilen und abstrakten, im Sinne der herrschenden Bildungspraktiken »schulähnlichen« Beschäftigungen, die für das Kind letztlich bedeutungslos bleiben – freiwillig und mit Freude lernen, sollten die Angebote das Interesse der Kinder wecken, sie motivieren und einen Sinn erkennen lassen.
Der wichtigste Grund für die Existenz von Schule als Institution besteht in der Vermittlung des kulturellen Erbes der Menschheit. Deshalb sind auch in der frühkindlichen Bildung Aktivitäten gefragt, welche Kinder im konzeptionellen und kulturellen Verständnis der Welt fördern (Siraj, 2017). Weil Lernen bedeutet, zunehmende Komplexität zu beherrschen (Roldão, 2013), wird ein spiralförmiges
Curriculum benötigt, welches das Wissen der Kinder hinsichtlich Tiefe, Komplexität und Darstellungsweise erweitert und den PädagogInnen die Aufgabe zuweist, die dafür geeignete Bühne zu schaffen (Bruner, 1996). Wie Wygotski (1991) betont, lernen Kinder insbesondere durch die Vermittlung dessen, was Erwachsene bzw. ErzieherInnen mit der Welt, mit Kultur verbindet. Diese zentrale Rolle wird im Bild vom Kind, in welchem Lernen als natürlicher, durch das Kind selbst initiiertem und gesteuertem Vorgang angesehen wird, oft übersehen oder geschmälert.
In dieser Hinsicht gibt es kein – vom Alter, Niveau oder Zyklus abhängiges – spezifisches Lernen. Kinder lernen, was ihnen möglich ist und das ist ebenso mit dem bereits vorhandenen Wissen untrennbar verbunden, als auch mit der Qualität der Bildungserfahrungen, denen sie begegnen oder in die sie vertieft sind. Die dichotome Vorstellung davon, was in der frühkindlichen Bildung gelernt werden kann und soll und was in der schulischen Bildung im Sinne von wasserdicht voneinander getrennten Wissensbereichen gelernt werden kann und soll, leitet sich vom geringschätzenden Blick auf die Bedeutsamkeit von Lernen überhaupt und auf das, was in den ersten drei Lebensjahren gelernt wird und von der »Infantilisierung« der frühkindlichen
Betreuung und der Kinder ab (Ribeiro, 2016).
In sozial benachteiligten oder kulturfernen Gemeinden können Kinder im Kindergarten über das Internet mit kulturellen Gegebenheiten der globalen Welt konfrontiert werden, die für sie gänzlich neu sind. Dies erweitert ihre Wirklichkeit und verortet sie kulturell in einer stärker holistischen, herausfordernden und »planetarischen« Perspektive. Zu lernen, die Welt um sich herum zu analysieren und zu interpretieren, ist für Kinder in unserer Mediengesellschaft, in er die Grenze zwischen »lokal« und »global« schon lange verschwommen ist, unabdingbar.
Luís Ribeiro arbeitet als Erzieher in den Kindergärten in Oriola und Portel, Portugal und ist Präsident des Berufsverbandes Frühkindliche Bildung (APEI).
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe KINDER in Europa heute 01/18 lesen.