Genderperspektiven
Liebe Leser:innen,
»Gender« (Geschlecht) ist das Thema der vierten Ausgabe von Kinder in Europa heute. Die Diskussion über Junge- und Mädchensein läuft seit Jahrzehnten, mittlerweile wurden in der Gleichstellung der Geschlechter Meilensteine erreicht. Heute gibt es ein neues Paradigma, Geschlecht zu verstehen. Es geht über die Debatte um Weiblichkeit und Männlichkeit hinaus, die unser pädagogisches Denken und die Bildungspolitik in Europa lange bestimmt hat. Wir möchten uns nicht nur für die Gleichberechtigung einsetzen, sondern auch für Identität, für das Aufbrechen sozialer Konstruktionen und das, dass Menschen aller Geschlechter und sexuellen Orientierungen gleichermaßen existieren dürfen und wahrgenommen werden.
Wie ein Jojo taucht das Thema der geschlechtergerechten Erziehung auf und ab, und jedes Mal wirft es neue Fragen und Perspektiven auf. Interessant ist, dass diesmal ein Ereignis außerhalb des pädagogischen Umfelds das Thema in den Mittelpunkt einer globalen öffentlichen Debatte rückt. Wir wollen die Entstehungsgeschichte von #metoo in den USA nicht in allen Details nacherzählen, aber es ist wichtig, daran zu erinnern, wie die Bewegung im November 2017 ins Rollen kam: im Zusammenhang mit den Anzeigen gegen den Filmproduzenten Harvey Weinstein wegen Vergewaltigung und sexueller Belästigung. Seither sind Diskussionen über Gleichberechtigung, Geschlecht und Macht in die großen Zeitungen und in die Radio- und Fernsehprogramme gelangt. Auch in Europa erstreckt sich die Wirkung von #metoo auf alle Ebenen der Gesellschaft. Das Ausmaß von männlichem Machtmissbrauch sowie neue, nationale Skandale um sexuelle Gewalt sind ans Licht gekommen.
Sexuelle Gewalt begrenzt sich nicht auf eine bestimmte Bevölkerungsgruppe oder soziale Schicht, sondern kommt überall in der Gesellschaft vor: in Chören, in Schulen, in Sportmannschaften, innerhalb und außerhalb von Familien. Aus gutem Grund haben die vielen konkreten Geschichten zu Empörung und Distanzierung geführt. Das Ausmaß der Vorfälle macht jedoch deutlich, dass wir uns – über die einzelnen Geschichten hinaus – auf das Spektrum an Strukturen und kulturellen Mustern konzentrieren müssen, die sexuelle Gewalt überhaupt ermöglichen. #metoo gibt Anlass, tiefer liegende soziale Konstrukte anzugehen.
Die Bewegung hat dazu beigetragen, unsere Rechtfertigungen von geschlechtsspezifischen Unterschieden zwischen Menschen neu zu hinterfragen. Sie lädt dazu ein, sich mit dem Zusammenhang von Geschlecht, Sexualität und Macht – und damit auch der Gefahr von Machtmissbrauch – auseinanderzusetzen. Pädagogische Fachkräfte werden dazu aufgerufen, in ihrer Arbeit mit Kindern eine kritische Geschlechterperspektive zu entwickeln, damit stereotype Vorstellungen nicht einfach weitergetragen werden.
Unsere Vorstellung von Familie besteht traditionell aus einem Vater, einer Mutter und zwei Kindern. Neben diesem Modell hat es immer viele andere Variationen gegeben, denen wir uns nun eingehender zuwenden sollten: Familien mit geschiedenen Eltern, Regenbogenfamilien und Frauen und Männer, die ihre Kinder ohne Ehe oder Lebenspartner:in großziehen. Auch innerhalb der eher traditionellen Familie gibt es viele größere und kleinere Brüche der einstmals festgeschriebenen Rollen. Heute können Männer Elternzeit nehmen und haben die Möglichkeit, mehr Zeit mit ihren Kindern zu verbringen als noch vor zehn Jahren.
Wir wollen deshalb in dieser Ausgabe die frühkindliche Bildung aus folgenden Blickwinkeln untersuchen: Woher kommen unsere Vorstellungen von Geschlecht, und wie sehen sie eigentlich aus? Wonach kategorisieren wir einen Menschen oder eine Aktivität als männlich bzw. weiblich? Welche sozialen Normen werden um Weiblichkeit und Männlichkeit herum konstruiert? Welchen Platz gibt es für Vorstellungen von Geschlechtsidentitäten jenseits von Mann und Frau? Für welche Möglichkeiten können und wollen wir uns öffnen? Wir müssen versuchen, unsere pädagogischen Erfahrungen mit den Ergebnissen der Genderforschung und der aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung zu verbinden. Die Grenzen zwischen den Geschlechtern werden heute als fließend angenommen. Dass sie einfach naturgegeben wären, steht ohnehin außer Frage.
Wir alle befinden uns in einem Geschlechtersystem, das sich wandelt. Dieser Wandel bietet neue Möglichkeiten, über Geschlecht und Kinder zu diskutieren, stellt aber auch neue Herausforderungen an unsere Bildungseinrichtungen und -pläne. Stereotypen Auffassungen von Geschlecht möchten wir neue Vorstellungen entgegen setzen und hiermit dazu einladen, einfach man selbst zu sein.
An dieser Stelle möchten wir auch auf die Erscheinung von 2021 »Aufwachsen ohne Klischee. Geschlechtsidentität in der frühen Kindheit« bei Verlag das netz aufmerksam machen. Die Beiträge »Raus aus der Puppenecke« von Claudia Wallner und das Interview mit zwei Erzieher:innen zu »Geschlechterdiversität im Leitbild« wurden für »Kinder in Europa heute« ausgewählt und erscheinen in den Ausgaben der anderen Länder. Für die deutsche Ausgabe haben wir diese Beiträge nicht veröffentlicht, da sie erst im letzten Jahr in einem Themensonderheft des Verlags erschienen sind. Lassen Sie uns gemeinsam mit unseren Autor:innen erkunden, wie sich diese gesellschaftlichen Veränderungen auf die Kinder im heutigen Europa auswirken.
Die Redaktion